Selbstzeugnisse
Die neue Reihe, in der Selbstzeugnisse des 20. Jahrhunderts präsentiert und kommentiert werden sollen, schließt an die von Renate Hauschild-Thiessen betreute Reihe Kindheitserinnerungen an, in der zwischen 2008 und 2012 vier Bände erschienen sind. Der titelgebende Begriff Selbstzeugnisse wird im weiten Sinne verstanden und umfasst neben den „klassischen“, also freiwillig selbst verfassten Autobiographien und Memoiren auch Briefe, Tagebücher, Reiseberichte, Chroniken, Haushaltsbücher u.ä. Zu Selbstzeugnissen können aber auch nicht-intendierte und nicht freiwillig zu Papier gebrachte Texte gehören, die personenbezogene Informationen enthalten (Strafprozessakten, Verhörprotokolle, Einstellungsbefragungen, Testamente, Bittschriften, u.a.).
Die Reihe sieht sich einer personenbezogenen Geschichtsforschung verpflichtet, die den Menschen, seine Wahrnehmungen, Erfahrungen, Lebenswelten und Reflexionen in den Mittelpunkt stellt. Sie möchte damit Einblicke geben in die Entstehung, Entwicklung und Veränderung von Selbstverständnissen, Werten, zwischenmenschlichen Beziehungen, sozialen Netzen, Emotionen, in Erfahrungen von Aufstieg und Wohlstand ebenso wie in die von Abstieg und Armut, Krieg, Gewalt und Flucht, in den Umgang mit und die Bedeutung von Bildung und Migration, die Bewertung von Lebensabschnitten, die Wahl von Beruf und Lebensform und vieles mehr.
Die Reihe erscheint im Wallstein-Verlag.
Band 2:
Maria Busch: »… und morgens war er dann ein Nazi«. Erinnerungen an Widerstand und Anpassung im Nationalsozialismus
Bearb. und mit einem Nachwort von Janne Grashoff
Göttingen: Wallstein Verlag 2023
173 Seiten, Abbildungen
ISBN 978-3-8353-5448-7
18 € (Mitgliederpreis: 12 €)
Zum Inhalt:
In einem sozialdemokratisch geprägten Arbeiter:innenmilieu in Bergedorf aufgewachsen, erlebte Maria Busch den beginnenden Nationalsozialismus. Da sich ihre Familie im Widerstand gegen das Regime engagierte, war auch sie von Verfolgung betroffen. In den 1980er Jahren widmete sie sich der Verschriftlichung ihrer Erinnerungen an die Jahre 1930 bis 1950 – ein Prozess, der sie über zwei Jahrzehnte beschäftigte. In differenzierten, mitunter lakonisch erzählten Episoden schildert Maria Busch die sozialdemokratischen Widerstandsstrukturen in Bergedorf, persönliche Begegnungen mit Nationalsozialist:innen in der Nachbarschaft, den Kriegsalltag und die Nachwirkungen der Diktatur in der Nachkriegszeit und setzt die individuellen Handlungs- und Haltungsspielräume in der nationalsozialistischen Gesellschaft ins Verhältnis zu den Entscheidungen ihrer Familie. Sie musste erleben, wie ehemalige Vertraute sich von heute auf morgen dem Nationalsozialismus anpassten und ihre Familie in der Einsamkeit des Widerstands zurückließen.
Unkonventionell, pointiert und eindringlich macht Maria Busch deutlich, wie sie die NS-Zeit erlebt hat.
Band 1:
Nathan Ben-Brith: Mein Gedächtnis nimmt es so wahr. Erinnerungen an den Holocaust
Bearb. und mit einem Nachwort von Inge Grolle
Göttingen: Wallstein Verlag 2015
176 Seiten, Abbildungen
ISBN 978-3-8353-1698-0
12,90 € (Mitgliederpreis: 7,90 €)
Eine Besprechung des Titels ist bei H/Soz/Kult nachzulesen.
Zum Inhalt:
Der in Hamburg geborene Nathan Ben-Brith legt Zeugnis ab von seinem Weg durch die Vernichtungsstätten der Nationalsozialisten.
Die behütete Kindheit des 1923 in Hamburg geborenen Ben-Brith wurde durch den Schock des Pogroms vom 9./10. November 1938 jäh beendet. Zu bezeugen, was ihm in den Jahren nationalsozialistischer Herrschaft zustieß, hat Ben-Brith erst Jahrzehnte später über sich gebracht. Sein gewissenhafter, erstmals veröffentlichter Bericht unterscheidet das Selbsterlebte und authentisch Erinnerte von später ergänztem Wissen. Sachlich, präzise und anschaulich schildert er die Stationen seines Weges: Flucht, Internierung, Deportation, Konzentrationslager, Todesmarsch und Überleben wider aller Wahrscheinlichkeit.
Besonders eindruckvoll sind seine Beschreibungen der Zwangsarbeit im oberschlesischen Industriegebiet bei der Herstellung von Holzschuhen in der Firma Bat'a und beim Aufbau der Hydrieranstalt Blechhammer, wo aus Kohle das vermeintlich kriegsentscheidende Flugbezin hergestellt werden sollte. Vor der Vernichtung durch Hunger und totale Erschöpfung retteten ihn außer Zufällen immer wieder mutig helfende Mithäftlinge.
Das Foto zeigt den damals 91-jährigen, 2018 verstorbenen Nathan Ben-Brith bei der Signierstunde im Anschluss an die Vorstellung seiner Holocaust-Erinnerungen als Band 1 der neuen VHG-Publikationsreihe der "Selbstzeugnisse", die am 30. September 2015 zum Auftakt des Herbstprogrammes in einer gut besuchten Veranstaltung in der Staats- und Universitätsbibliothek präsentiert wurde.
(Foto: Gesche-M. Cordes)