Griff in die Geschichte (28) 

750 Jahre Ordeelbook –
Jordan von Boizenburg und das erste Hamburger Stadtrecht

 

von Dominik Kloss

 

Im Herbst des Jahres 1270 dürfte der langjährige Hamburger Ratsnotar, Magister Jordan von Boizenburg, eine gefragte Person in der Stadt gewesen sein. Und dies weniger, weil er einer der einflussreichsten hiesigen Familien entstammte (sein Sohn Konrad war auf dem besten Wege zu einer Karriere als Ratsherr oder gar Bürgermeister und sein Großvater Wirad hatte acht Jahrzehnte zuvor erfolgreich in der Alsterniederung die Hamburger Neustadt als Kaufmannssiedlung etabliert), sondern weil er auf ein erfolgreiches Lebenswerk als Rechtsgelehrter zurückblicken konnte.

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Schon 1248 hatte der – 1236 erstmals urkundlich erwähnte – Jordan das erste städtische Erbebuch zusammengestellt und in den Jahren darauf als Syndikus und Teilnehmer von Gesandtschaften Hamburgs Interessen bei fremden Herrschern auch außerhalb der Schreibstube vertreten. Zollprivilegien der Hamburger Händler in Flandern und die im Jahr 1261 erwirkte Zollfreiheit in Schweden dürften nicht zuletzt seinem diplomatischen Talent zu verdanken gewesen sein. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der juristisch erfahrene Notar auch maßgeblich an der Entstehung des berühmten Freibriefs, jener gefälschten, postum Kaiser Friedrich Barbarossa zugeschriebenen Urkunde beteiligt gewesen ist, mit dem Hamburg in den 1260er Jahren erfolgreich gegen die Ansprüche des benachbarten Stade auf den Elbhandel argumentierte.

Als Krönung (und mit dem Erfahrungsschatz) des jahrzehntelangen Dienstes für die Vaterstadt schuf Jordan von Boizenburg dann schließlich eine Sammlung von Rechtsbestimmungen nicht in lateinischer, sondern – für diese Zeit eine Besonderheit – niederdeutscher Sprache.
gig27 Buesch2Das so entstandene „Ordeelbook“, also „Urteilsbuch“, umfasste, untergliedert in 12 „Stücke“, knapp 180 einzelne Artikel u.a. zu Personen- und Sachrecht, Familien- und Erbrecht, Schuld- und Strafrecht – aber auch zusätzliche Informationen zu hochmittelalterlichem Seerecht und Prozessverfahren. Damit kann das Ordeelbook, dessen ursprüngliche Inhalte allerdings aus mindestens 200 Jahre jüngeren Abschriften rekonstruiert werden müssen, als erste Rechtskodifikation Hamburgs gelten – und wurde zugleich das Vorbild weiterer Gesetzesbücher im Hanseraum.
Wie die ersten Zeilen verraten, verabschiedete der Hamburger Rat am Mittwoch vor St. Felician im Jahr 1270 „diese Urteile von der ganzen Stadt Willen“, womit wir am diesjährigen 15. Oktober den 750. Jahrestag dieses für die Hamburgische Geschichte wichtigen Ereignisses erreichen.

Um auch die zeitgenössische Bedeutung des Ordeelbook zu ermessen, lohnt ein kleiner Blick auf Hamburg im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts. Denn es war keineswegs selbstverständlich, dass die zu dieser Zeit etwa 3000 Einwohner umfassende Stadt ein eigenes Stadtrecht besaß. Den letzten geistlichen Stadtherren, Erzbischof Gerhard II. von Bremen, war man zwar schon 1228 losgeworden, aber die weltliche Oberhoheit verblieb immer noch bei den Schauenburger Grafen und ihrer Herrschaft über Holstein. Dennoch – einerseits bedrängt durch erstarkende Dänenkönige als auch andere norddeutsche adlige Konkurrenten und andererseits mit stetig selbstbewusster auftretenden städtischen Eliten konfrontiert – mussten die Schauenburger den Hamburgern Zugeständnisse machen. Und so
bekam die Stadt an der Alster, die spätestens ab 1241 ein eigenes Siegel führte und den Bau eines Mauerrings vorantrieb, nach und nach bis zur Mitte der 1260er Jahre urkundlich die Kontrolle über die gräfliche Münzstätte, Zölle und Nutzungsrechte an der Alster zugesprochen. Auch die Befugnisse des Vogtes, der als gräflicher Stellvertreter in Hamburg vor allem die niedere Rechtsprechung verantwortete, wurden stetig weiter beschnitten. 1264 wurden dem Vogtgericht zwei Ratsherren als Beisitzer hinzugesellt, die mit dem bald darauf vorliegenden Ordeelbook auch eine gewichtige schriftliche Bestätigung für ihre Kompetenzen besaßen. gig28 Ordeelbook 3Die Schauenburger Grafen wiederum verloren noch einmal deutlich an Einfluss, als sie ihr Gebiet 1273 wegen Familienstreitigkeiten in zwei Hälften aufteilen mussten. Die Oberhäupter der fortan bestehenden Itzehoher und der Kieler Linie mussten halbwegs machtlos mitansehen, wie Hamburg im Bündnis mit dem benachbarten Lübeck den Hansebund immer weiter ausgestaltete und ab 1292 sogar eigenständig Gesetze verabschiedete. Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen erfüllte das Ordeelbook zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen schon die Funktion des ersten Hamburger Stadtrechts.

Jordan von Boizenburg, das Ordeelbook und auch spätere darauf aufbauende Hamburger Stadtrechte – etwa das vor allem wegen seiner farbenfrohen Illustrationen bekannte von 1497 – sind in der Bibliothek des VHG verhältnismäßig häufig vertreten. Kaum verwunderlich, gehörte die Beschäftigung mit frühen Rechtsquellen doch zu den Hauptaufgaben früherer Archivare – von denen, angefangen bereits bei Johann Martin Lappenberg, nicht wenige auch im Verein für Hamburgische Geschichte aktiv waren. Die jahrzehntelange Forschungstätigkeit etwa Heinrich Reinckes, der in Jordan den bewundernswerten „Vater des städtischen Archivwesens“ sah, spiegelt sich dabei ebenso in den Vereinspublikationen wider wie jüngere Studien zur Rechtspflege und -praxis im mittelalterlichen Hamburg.

 

 

Quellen und Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:

 

Hanf, Maike: Hamburgs Weg in die praktische Unabhängigkeit vom schauenburgischen Landesherrn, Hamburg 1986 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs; Bd. 31).
A.I.2 / 008.31

 

Binder, Beate: Illustriertes Recht. Die Miniaturen des Hamburger Stadtrechts von 1497, Hamburg 1988 (Veröffentlichungen des VHG; Bd. 32).
A.I.2 / 184,32

 

Eichler, Frank: Die Langenbeck`sche Glosse zum Hamburger Stadtrecht von 1497, Hamburg 2008.
A.IV.1.a / 015

 

Lappenberg, Johann Martin: Die Miniaturen zu dem Hamburgischen Stadtrechte vom Jahre 1497, Hamburg 1845.
A.IV.1.a / 055

 

Reincke, Heinrich: Das hamburgische Ordeelbook von 1270 und sein Verfasser; Sonderdruck aus der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 72 (1955), S. 83-110.
A.IV.1.a / 139

 

Reincke, Heinrich: Die ältesten hamburgischen Stadtrechte und ihre Quellen; Sonderabzug aus der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 25 (1924), S. 1-40.
A.IV.1.a / 140

 

Eichler, Franz: Das Hamburger Ordeelbook in der Erstfassung von 1270. Rechtshistorische und sprachliche Rekonstruktion aus den vorhandenen Quellen, Hamburg 2007.
A.IV.1a / 141

 

Trummer, Carl: Die beiden letzten Abhandlungen über das hamburgische Stadtrecht; nach dem Tode des Verfassers hrsg. von dessen Familie, Hamburg 1859.
A.IV.1.a / 180

 

Obst, Arthur: Ursprung und Entwicklung der Hamburgischen Rathsverfassung bis zum Stadtrecht von 1292; Diss. Berlin, Hamburg 1890.
A.IV.2.b / 126

 

Rogge, Roswitha: Zwischen Moral und Handelsgeist. Weibliche Handlungsräume und Geschlechterbeziehungen im Spiegel des hamburgischen Stadtrechts vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998 (Ius Commune. Sonderhefte; Bd. 109).
A.IV.2.b / 209

 

Recht und Justiz im alten Hamburg. Vom mittelalterlichen Stadtrecht zur Reichsjustizreform; Ausstellung des Staatsarchivs Hamburg 23. 9. - 29. 11. 1974, Bearb. Hans-Dieter Loose, Hamburg 1974.
A.IV.6.a / 010

 

 

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Stellungnahmen zur Rezension von Jakob Anderhandt in der ZHG 108 (2022) über den Band: "Hamburg. Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung", herausgegeben von Jürgen Zimmerer und Kim Sebastian Todzi:

Erklärung des Vorstandes zur Rezension von Jakob Anderhandt, Februar 2023

 

Replik von Kim Sebastian Todzi zur Rezension von Jakob Anderhandt, Dezember 2022

 

Stellungnahme von Jürgen Zimmerer zur Rezension von Jakob Anderhandt, Dezember 2022

 

 

Beitrag des VHG:

"Erinnerungskultur im städtischen Raum - Kontexte und Hintergründe der Debatte um den Wiederaufbau der Hamburger Bornplatzsynagoge" 

 


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