Griff in die Geschichte (13) 

Bergedorf seit 150 Jahren in Gänze hamburgisch

Von Dominik Kloss

 

Im Südosten Hamburgs liegt mit Bergedorf ein Städtchen, das heute einem Stadtteil und Bezirk der Metropole seinen Namen gibt, dessen Geschichte aber zugleich eine langwährende Besonderheit birgt. Denn schon seit 1420 wurden Bergedorf (das zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 250 Jahren bestand) und die sich südlich davon bis zur Elbe erstreckenden Vierlande gemeinsam von Hamburg und Lübeck regiert. Dieses zumindest in Norddeutschland ungewöhnliche staatsrechtliche Konstrukt einer „beiderstädtischen Herrschaft“ (die zudem noch Geesthacht und – immerhin bis 1865 – den halben Sachsenwald umfasste), endete erst am 1. Januar 1868 – vor nunmehr 150 Jahren.

gig bergedorf 1Das Datum stellt in vielerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Vor 1868 kann Bergedorf, das den Hamburger und Lübecker Stadtregierungen vor allem als administratives Zentrum für die landwirtschaftlich bedeutsamen Vierlande diente, als so etwas wie eine Kolonie gelten, in der sich die spätmittelalterlich etablierte Verwaltungspraxis nur minimal veränderte. Augenfällig wurde dies dadurch, dass die beiderstädtischen Amtsträger als Hauptleute durchgehend auf dem Schloss Bergedorf residierten (immer im stetigen Wechsel), wo sie nicht nur Gerichtssitzungen vorsaßen, sondern auch Erbschaften und Hofverkäufe registrierten. Zwar gab es mit den Land- bzw. Bauernvögten und dem kleinen Stadtrat von vier Personen gewählte Interessenvertreter, doch ein eigenes Rathaus wurde den Bergedorfern nicht zugestanden. Etwaige Beschwerden gegenüber allzu feudaler Amtsführung der „Zween Herren“ auf dem Schloss (seit 1620 sogar auf Lebenszeit) konnte man nur bei den regelmäßigen Kontrollbesuchen durch Hamburger und Lübecker Ratsdelegationen, den sogenannten Visitationen, vorbringen. Der Charakter als kleines Landstädtchen von Hamburgs und Lübecks Gnaden spiegelte sich auch in den Bevölkerungszahlen wieder: mit etwas über 3000 Einwohnern in den 1860er Jahren hatte Bergedorf seit den 2000 Einwohnern des Jahres 1700 zwar an Größe gewonnen, doch ging ein Großteil dieses Zuwachses erst auf das Konto der 1842 eröffneten Eisenbahnlinie nach Hamburg bzw. deren 1846 erfolgten Weiterführung nach Berlin.

Der Eisenbahnbau sollte der erste Vorbote des Wandels sein. Von ihm profitierten auch die angrenzenden Nachbargemeinden Lohbrügge und Sande, in denen unter neuer preußischer Oberhoheit schon 1864 die Industrialisierung vorangetrieben und wenige Jahre später die Gewerbefreiheit durchgesetzt wurde. Der Druck Preußens war gleichsam ausschlaggebend dafür, dass das erst zögerliche Hamburg nun einwilligte, Lübecks Anteile an Bergedorf und den Vierlanden gänzlich zu übernehmen – drohte doch deren Abtretung an das seit 1865 preußische Herzogtum Lauenburg. Festgeschrieben wurde der Rückzug Lübecks aus der beiderstädtischen Herrschaft für den Preis von 200.000 Taler preußisch Courant am 8. August 1867 in einem Vertrag, der wie besagt Anfang 1868 in Kraft trat.

gig bergedorf 3Schon bevor dann im Januar 1873 mit der Einführung der Hamburgischen Landgemeindeordnung weitreichende Veränderungen im Verwaltungsalltag der nunmehrigen „Landherrenschaft Bergedorf“ festgeschrieben wurden, zeigten sich aber bereits die Folgen der neuen Regelung. Die erst 1861 eingeführten Bergedorfer Briefmarken waren obsolet geworden und der Wegfall der Zollgrenzen im Februar 1868 begünstigte nunmehr die Ansiedlung von Handwerksbetrieben und Fabriken: zum bereits florierenden Sander Eisenwerk gesellten sich bald Tabak-, Glas- und Kandisproduktion als Vorboten der großen Industrien, die sich seit den frühen 1880er Jahren in Bergedorf etablierten. Der Bedarf an Arbeitskräften schlug sich nicht lange darauf in einem rasanten Bevölkerungswachstum nieder: Um 1900 hatte Bergedorf bereits die 10000er-Marke überschritten und auch das benachbarte Lohbrügge kam zu diesem Zeitpunkt bereits auf 5000 Einwohner.

Das frühe 20. Jahrhundert sah dann in Bergedorf im Kleinen ganz ähnliche Maßnahmen, wie sie in Hamburg im Großen umgesetzt wurden: Hafen- und Kanalisationsausbau, die Anlage von Durchbruchstraßen, ferner den Bau von Wohnvierteln, Schulen und schließlich Behördengebäuden – 1927 konnte man das mindestens seit drei Jahrhunderten geforderte eigene Rathaus endlich beziehen. Wenngleich von kurzlebiger Dauer – zehn Jahre darauf wurde dieser Rechtstatus im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes bereits wieder beschnitten – so hat Bergedorf doch seine offizielle Rolle als „Stadt“ (und nicht mehr nur als „Städtchen“) innerhalb des Stadtstaates Hamburg offenkundig recht gut auszufüllen vermocht.

Die an Kuriositäten reiche Geschichte Bergedorfs und der Vierlande bis 1868 und ihrer vielfältigen Entwicklungen seither mag sich im gegenwärtigen Selbstverständnis der Bewohner des hamburgischen Südostens zuweilen noch wiederspiegeln – auf jeden Fall aber tut sie dies an verschiedenen Stellen unserer Vereinsbibliothek, wo sie in vielgestaltigen Publikationen (unten eine Auswahl) zur Lektüre einlädt. 

 

Quellen und Literatur zum Thema in der VHG-Bibliothek:

 

Bergedorfer Personenlexikon, hg. v. Olaf Matthes und Bardo Metzger (Museum für Bergedorf und die Vierlande), Hamburg ²2003.
A.II.4.f/041

Daur, Georg und Hudemann, Hildegard: Bergedorf, Vier- und Marschlande, Hamburg 1974.
A.II.4.f/048

Das Bergedorfer Schloss. Een sloten Huß. Entstehung - Funktionen – Baugeschichte, hg. v. Victoria Overlack, (Stiftung Historische Museen Hamburg), Hamburg 2008.
A.II.4.f/051

Römmer, Christian: 850 Jahre Bergedorf. Eine Stadtgeschichte (Kultur- & Geschichtskontor), Hamburg 2012.
A.III.6.d/040

Kellinghusen, Hans: Das Amt Bergedorf. Geschichte seiner Verfassung und Verwaltung bis 1620 (I. und II. Teil), Diss. Universität Göttingen, Hamburg 1908.
A.III.6.d/085

Knorr, Martin: Vom Holstentor in Bergedorf, in: Bergedorf. Aus Geschichte und Kultur; Lichtwark-Heft Nr. 40 (Dezember 1977), S. 2-13.
A.III.6.d/118

Geschichte der Stadt Bergedorf, zus. gest. von Georg Staunau; mit Lichtdruckbildern von Carl Griese und Zeichnungen von Oskar Schwindrazheim, Hamburg 1894.
A.III.6.d/171

 

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