Griff in die Geschichte

Kein Spiel wie jedes andere – über das deutsch-deutsche Duell bei der Fußballweltmeisterschaft vor 50 Jahren

von Rainer Nicolaysen

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Am 22. Juni 1974 war das Hamburger Volksparkstadion Schauplatz eines legendären Fußballspiels, des einzigen, das es zwischen den Nationalmannschaften der Bundesrepublik und der DDR jemals gab. Bekanntlich endete diese Vorrundenbegegnung der Weltmeisterschaft mit einem 1:0-Sieg der ostdeutschen Außenseiter gegen die westdeutschen Favoriten. Ein Tor des Magdeburgers Jürgen Sparwasser entschied die Partie in der 77. Minute. Der Name des Stürmers war fortan auch im Westen ein Begriff; sein im Spiel getragenes Trikot wird heute im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ausgestellt – als Symbol eines „Erinnerungsorts“ deutscher Geschichte.

In Zeiten des Kalten Krieges waren globale Sportveranstaltungen immer auch Wettbewerbe zwischen den Systemen. Für die DDR ging es nicht nur darum, die vermeintliche Überlegenheit des Sozialismus zu demonstrieren, sondern auch die eigene Existenz als Staat. Erst im Zuge der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt hatte die Bundesrepublik die DDR im Grundlagenvertrag von 1972/73 staatsrechtlich, wenngleich nicht als Ausland, anerkannt. Erst damit war der Weg auch für die anderen Staaten des Westens frei, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen; im September 1973 konnten beide deutschen Staaten der UNO beitreten.

Auf sportlichem Gebiet hatte es noch bis 1964 eine gesamtdeutsche Mannschaft bei Olympischen Spielen gegeben. 1968 waren in Grenoble und Mexiko-Stadt erstmals zwei deutsche Mannschaften angetreten, 1972 in Sapporo und München dann zum ersten Mal mit eigenen Flaggen und Hymnen. Die Sommerspiele von München sollten die Bundesrepublik 27 Jahre nach dem „Dritten Reich“ als modernes, weltoffenes Land präsentieren und als „die fröhlichen Spiele“ in die Geschichte eingehen – ein Bild, das mit dem Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft jäh zerstört wurde. Sportlich demonstrierte die DDR ihre Stärke, indem sie nach der Sowjetunion und den USA die meisten Medaillen errang – und das in Zeiten, in denen staatlich gesteuertes Doping erst begann.

Als zwei Jahre später – 1974 – mit der Fußballweltmeisterschaft gleich das nächste globale Großereignis des Sports in der Bundesrepublik stattfand, schienen die Weichen anders gestellt zu sein. Denn während sich die DDR-Fußballer überhaupt erstmals für ein Weltmeisterschaftsturnier qualifiziert hatten, galt die bundesdeutsche Auswahl bei ihrer Heim-WM als amtierender Europameister mit Spielern wie Beckenbauer, Maier, Müller, Overath, Netzer, Hoeneß und Breitner zumindest als Mitfavorit auf den Titel. Das Los führte dann die beiden deutschen Mannschaften, ergänzt um Australien und Chile, in der Vorrundengruppe I zusammen, deren Spiele in Hamburg und (West-)Berlin stattfanden. Als einer von neun WM-Austragungsorten hatte das Volksparkstadion den Zuschlag für drei Spiele erhalten.

Während die bundesdeutsche Mannschaft ihr Quartier in Malente bezog, war das Team der DDR für die Vorrunde in einem Sporthotel in Quickborn untergebracht. Gewisse Freiräume wie ein individueller Einkaufsbummel in Hamburgs Innenstadt wurde den Spielern gewährt, Mitarbeiter der Staatssicherheit waren gleichwohl immer in ihrer Nähe.

Nach dem Spielplan der WM trafen die beiden deutschen Mannschaften im letzten Spiel ihrer Vorrunde aufeinander. Nach Siegen gegen Chile und Australien war die Bundesrepublik bereits für die Zwischenrunde qualifiziert, und die DDR-Spieler erfuhren noch direkt vor dem Spiel, dass auch sie schon weitergekommen waren, weil sich die beiden anderen Kontrahenten der Gruppe gerade unentschieden getrennt hatten. Beiden deutschen Mannschaften war also der Druck des Punktens genommen; über die symbolische Brisanz des Duells bestand allerdings kein Zweifel.

Anders als etwa bei der Europameisterschaft 2024 waren viele WM-Spiele 1974 auch nicht annähernd ausverkauft. Für das Spiel der DDR gegen Australien hatten sich gerade einmal 17.000 Zuschauer im Volksparkstadion verloren. Die deutsch-deutsche Begegnung füllte dann gut 60.000 der damals 65.000 Plätze. Unter den Zuschauern waren 1.500 für das Spiel eingereiste „DDR-Fans“, die monatelang von der SED ausgewählt und von der Staatssicherheit überprüft worden waren. Ihnen wurden klare Anweisungen mitgegeben – bis hin zu den Fangesängen, die sie anzustimmen hatten. Anwesend im Stadion war auch Bundeskanzler Helmut Schmidt, der kurz vor der WM Willy Brandt abgelöst hatte, nachdem dieser ausgerechnet wegen eines enttarnten DDR-Spions im Bundeskanzleramt, seines persönlichen Referenten Günter Guillaume, zurückgetreten war. Nicht im Volksparkstadion dabei war DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker, der es dann nach der Partie auch vermied, den Siegern ein Glückwunschtelegramm zu schicken. Nach offizieller DDR-Lesart sollte die Begegnung ein ganz normales Länderspiel zwischen zwei Nationalmannschaften sein (die es nach westlicher Lesart und dem Motto „Zwei Staaten – eine Nation“ eigentlich gar nicht geben konnte).

Das Spiel selbst ist schnell erzählt: Nach anfänglicher Dominanz des Favoriten verflachte die Partie zusehends; die DDR-Mannschaft war defensiv ausgerichtet und zeigte sich gut organisiert. Das bundesdeutsche Team fand nicht mehr zu seinem Spiel und wurde schließlich durch Sparwassers Lucky Punch bestraft. Bitter war das Match auch für einen der bekanntesten bundesdeutschen Fußballer, für Günter Netzer, der nur für die letzten 20 Minuten eingewechselt wurde und dem Spiel nicht mehr seinen Stempel aufzudrücken vermochte. Diese 20 Minuten von Hamburg waren die einzigen, die Netzer je bei einer Weltmeisterschaft gespielt hat.

Nach dem Spiel wurden in der Kabine die Trikots getauscht; der übliche Tausch auf dem Spielfeld vor laufenden Kameras war den DDR-Spielern untersagt worden. Szenen der Verbrüderung sollten unbedingt vermieden werden. Anschließend wurde in Quickborn gefeiert; in Malente herrschte Tristesse. Die beiden DDR-Spieler Gerd Kische und Jürgen Croy büxten in der Nacht noch aus, um sich einmal das Nachtleben auf der Reeperbahn anzusehen, während sich Sepp Maier und Uli Hoeneß heimlich aus Malente absetzten, um ihre Frauen ebenfalls in Hamburg zu treffen. Auch ihr Quartier wurde polizeilich überwacht. Aus Furcht vor Attentaten der RAF galten besondere Sicherheitsvorkehrungen.

Der weitere Verlauf des Turniers ist bekannt: Statt der inzwischen üblichen „k.o.-Spiele“, die auf die Vorrunde folgen, wurde 1974 eine Zwischenrunde ausgespielt: in zwei Gruppen, deren Erstplatzierte ins Finale einzogen. Während die DDR als Sieger ihrer Vorrundengruppe dann in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien anzutreten hatte, bekam es die Bundesrepublik als Gruppenzweiter mit Jugoslawien, Schweden und Polen zu tun – die wohl nicht nur auf dem Papier leichtere Aufgabe. Die Niederlage gegen die DDR hatte sich also unbeabsichtigt gelohnt und wirkte zudem wie ein Weckruf. Das Finale bestritten schließlich Johan Cruyffs Niederlande und die Bundesrepublik, die sich mit einem 2:1 – zum zweiten Mal nach 1954 – den Weltmeistertitel holte. Die DDR war als Dritter der Zwischenrundengruppe ausgeschieden. Die Machtverhältnisse im Fußball waren wieder zurechtgerückt.

Anders als bei den WM-Erfolgen 1954, 1990 und 2014 wurde der WM-Titel 1974 nur sehr zurückhaltend gefeiert. Große Empfänge und Siegesfahrten als Massenveranstaltungen blieben aus, Fanmeilen gab es ohnehin noch nicht. In der DDR erhielten die Fußballer zusätzliche Vergünstigungen für ihr erfolgreiches Abschneiden und ihren Sieg über die Bundesrepublik. Danach gelang es der DDR nie mehr, sich für eine Fußballweltmeisterschaft zu qualifizieren; Jürgen Sparwasser, der Held von 1974, nutzte 1988 das Gastspiel der Magdeburger Altherrenmannschaft in Saarbrücken zur Flucht in den Westen.

Zu einem erneuten Zusammentreffen beider deutscher Mannschaften kam es nicht mehr; offenbar wollte sich die DDR-Führung die positive Bilanz gegen die Bundesrepublik nicht nehmen lassen. Für die Qualifikation zur Europameisterschaft 1992 waren die beiden deutschen Teams dann noch einmal in eine Gruppe gelost worden, aber im November 1990, als das Hinspiel in Leipzig hätte stattfinden sollen, existierte die DDR schon nicht mehr. So blieb das Spiel in Hamburg für immer singulär.

Nachbemerkung: Eigentlich sollte man differenzierter von der Fußballweltmeisterschaft der Männer sprechen, aber eine solche für Frauen gab es 1974 noch nicht; die erste wurde 1991 ausgetragen. Bis 1970 verbot der Deutsche Fußball-Bund sogar Frauenfußball in seinen Vereinen. Eine Frauenfußballnationalmannschaft wurde in der Bundesrepublik erst 1982, in der DDR 1989 gegründet. Ein deutsch-deutsches Länderspiel im Frauenbereich hat es nie gegeben.

Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:

 

Blees, Thomas. 90 Minuten Klassenkampf. Das Fußball-Länderspiel BRD-DDR am 22. Juni 1974, Frankfurt am Main 1999
A.IX.10 / 014a

Reng, Ronald. 1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte, München 2024
A.XI.10 / 014b