Griff in die Geschichte

28. April 1875: Gründung des Wohltätigen Schulvereins zu Hamburg

von Klaus-Dieter Müller

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Am 28. April 1875 empfing der Kaufmann Carl Alexander Fischer drei Herren, um mit ihnen im Auftrag der zuvor gegründeten Schulvereine in den Hamburger Stadtteilen den „Wohlthätigen Schulverein“ zu gründen. Der Verein sollte „der Volksschule in Hamburg dadurch dienen, dass er bedürftige Schüler und Schülerinnen derselben in leibliche Pflege und Aufsicht nimmt.“ Die Gründer, gut situierte Bürger, waren von der Idee einer Volksschule als allgemeiner Bildungsinstitution begeistert. Sie sollte das allgemeine Bildungsniveau heben und über die Bevölkerungsschichten hinweg gesellschaftlich integrierend wirken und damit die “Soziale Frage” entschärfen. Der 1870 per Gesetz aus den Armenschulen gebildeten Volksschule haftete jedoch ein proletarischer Makel an. Armut erschwerte Kindern einen erfolgreichen Schulbesuch oder machte ihn unmöglich. Der Verein wollte daher bedürftige Kinder materiell unterstützen, um ihnen Bildungschancen zu eröffnen, und damit auch das Image der Volksschule bei den noch kritischen Bevölkerungskreisen heben.

Zu seinem Programm gehörten warme Mittagsmahlzeiten, Schuhe und Bekleidung, Billets für ein Reinigungsbad in einer städtischen Badeanstalt und ab 1876 Landaufenthalte und Badekuren für erholungsbedürftige Kinder. Dem Verein gelang es, wohlhabende Bürgerinnen und Bürger für seine Zwecke zu gewinnen. Die Zahl der Mitglieder lag bereits nach fünf Jahren bei 1656 und überschritt 1886 sogar die Zahl von 2000. Sie empfanden es als ihre Bürgerpflicht, sich in der Privatwohltätigkeit zu engagieren, indem sie ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluss für den Verein einsetzten und dessen Ziele finanziell unterstützten. Dies ermöglichte eine Expansion der Leistungen für Kinder. Das rasante Wachstum der Bevölkerung und die Erschließung neuer Stadtteile führte zur Gründung weiterer Stadtteilvereine, die 1893 dem Wohltätigen Schulverein beitraten, der dadurch weiter an Bedeutung gewann.
 

Bis zum öffentlich gefeierten, 25-jährigen Jubiläum hatte sich durch die inhaltliche Nähe zum Schul-, aber auch zum Armenwesen und durch die politisch aktiven Funktionäre des Vereins eine Kooperation mit der öffentlichen Verwaltung ergeben, für die die Formel „Hand in Hand“ geprägt wurde. Dem Verhältnis lag bei den Vereinsfunktionären ein „semistaatliches Selbstverständnis“ zugrunde, wie Pielhoff in seiner Studie zur Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum zwischen 1830 und 1914 feststellt. Bereits ab 1893 nutzte die Armenverwaltung den Verein, um Kinder ihrer Klientel eine Erholungskur zu ermöglichen. Dieses Auftragsverhältnis entwickelte sich weiter und erreichte im Ersten Weltkrieg mit der Einbeziehung des Vereins in die Versorgung der Bevölkerung eine neue Dimension: Der Verein war „zum Arm des Staates“ geworden, wie sein langjähriger Vorsitzender Friedrich Rode nach dem Krieg mit Bedauern feststellte. Das Engagement der Vereinsmitglieder war angesichts der mittlerweile stark ausgeweiteten Leistungen und der staatlichen Finanzierung nicht mehr erforderlich. Der Mitgliederbestand sank auf ein dauerhaft niedriges Niveau ab.

Im Ersten Weltkrieg und in den Krisen- und Kriegsjahren bis 1950 festigte der Verein seine enge Kooperation mit dem Staat und blieb vom Wechsel der politischen Verhältnisse insoweit unberührt, als dass er nahezu permanent im Krisenmodus für bedürftige Schulkinder und sogar andere Zielgruppen arbeitete, egal, welche Administration ihn beauftragte und finanzierte.
Zwischen 1920 und 1925 führte er die Schulspeisung durch, die durch Spenden der Quäker und später auch anderer Organisationen aus den USA ermöglicht wurde. In den wirtschaftlichen Krisenjahren ab 1930 weitete der Verein die Mittagsspeisung für bedürftige Schulkinder, aber auch Rentner und Arbeitslose erheblich aus. Das Schulfrühstück musste er hingegen nach den Sommerferien 1931 einstellen, weil es die Stadt nicht mehr finanzieren konnte.
Der Betrieb der Erholungsheime, der in den Kriegs- und Nachkriegsjahren fortgeführt und sogar ausgebaut wurde, erlitt einen Einbruch, als sich die Stadt in der Wirtschaftskrise aus der Finanzierung zurückziehen musste.
 

Vereinsfunktionäre waren in der Regel Politiker oder hohe Beamte, die den Verein wie eine Abteilung einer Behörde behandelten. Die Gleichschaltung des Vereins durch das nationalsozialistische Regime im Mai 1933 verstärkte dies. Die Geschäfte wurden nun von dem Leiter einer behördlichen Dienststelle geführt, der die Ressourcen des Vereins in den Dienst der Nationalsozialistischen Volksfürsorge stellte. 1937 wurde die Satzung den nationalsozialistischen Organisationsprinzipien wie dem “Führerprinzip” und der Unterwerfung unter Parteiorganisationen (hier der NSV) angepasst und der Verein in „Hamburger Schulverein“ umbenannt.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit versetzten den Verein erneut in den Krisenmodus. Die Küchen des Vereins wurden für die Versorgung der Bevölkerung eingesetzt. Nach dem Krieg wurde der Verein mit der Schulspeisung beauftragt, zunächst mit begrenzten Mitteln, ab Frühjahr 1946 bis 1950 mit Auslandsunterstützung insbesondere über die „Hoover-Speisung“ der USA. Die Erholungsheime wurden im Krieg für kriegswichtige Zwecke in Anspruch genommen, konnten aber noch im Jahr 1945 wieder Kinder aufnehmen.
 
Mit dem Wiederaufbau der administrativen und zivilen Ordnung war der neue Schulsenator, Heinrich Landahl, zum Vereinsvorsitzenden bestimmt worden. Die Geschäftsführung hatte der neue Leiter der Dienststelle „Schülerfürsorge“ inne. Damit wirkte die im Nationalsozialismus etablierte Organisationsstruktur in diesem Punkt fort. Auch die enge Zusammenarbeit zwischen Behörde und Verein änderte sich nach dem Krieg und der Übernahme der Regierungsverantwortung mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder nicht.
Der Verein agierte weiterhin in enger Abstimmung mit der Schulbehörde und wurde durch sie finanziert. Nach einem Jahrzehnt des Aufschwungs mit fachlichen Konzepten aus den 1920er Jahren wurde der Verein vom raschen sozialen Wandel eingeholt. Der Krisenmodus war nicht mehr gefragt und auch das Bild armer, kränklicher Kinder, um die sich der Verein kümmern müsse, war zunehmend realitätsfern.
 

Der Wohlfahrtsstaat und die prosperierende Freizeitwirtschaft hatten ein weites Feld von Anbietern für Kindererholung und Ferienfreizeiten sowie erschwingliche Familienurlaube generiert. Lebensmittel waren keine Mangelware mehr, sondern in einem breiten Sortiment zu bezahlbaren Preisen verfügbar. Der Verein realisierte diese Veränderung nur halbherzig und spät. Außerdem gerieten die öffentlichen Haushalte in Folge der Weltwirtschaft in den 1970er Jahren in eine Krise. Die staatlichen Finanzen ließen eine bloße Addition weiterer Leistungen oder deren Ausweitung nicht mehr zu. Sie mussten rationalisiert werden. Bisheriges musste zugunsten aktueller und zukünftiger Bedarfe entfallen. Seit 1975 folgten in jeder Legislaturperiode Spar- und Umschichtungsprogramme im Haushalt. Der Verein verstand dies nur unzureichend und akzeptierte das Erfordernis eines Wandels letztendlich nicht. Wirtschaftlich verkalkuliert, musste er sich in den 1980er Jahren auf Drängen der Schulbehörde unter einem neuen Vorstandsteam „gesundschrumpfen“. Die Schulspeisung wurde eingestellt, die Erholungsheime wurden bis auf zwei geschlossen und die Immobilien verwertet.

Der Verein erhielt durch den jugend-, familien- und bildungspolitischen Aufbruch der 1990er Jahre die Chance, sich in der Hortbetreuung in Schulen zu engagieren. Bis zum Jahr 2000 baute er mit behördlicher Finanzierung 36 Horte auf. 2001 übertrug die Schulbehörde dem Verein den Betrieb der vier Hamburger Freiluftschulen. In der Folgezeit entwickelte er seine Leistungen in der Ganztagsbetreuung in Schulen im Einklang mit den Reformen im Schulwesen bis 2012 fort. Neben der Sozialarbeit in Schulen wurde der Verein auch in der Tagesbetreuung von Kindern im Vorschulalter tätig.

Das Verhältnis zwischen der Schulbehörde und dem Verein gestaltete sich seit 1999 merklich distanzierter, als die Schul- und Jugendsenatorin Raab nicht zur Wiederwahl zum Vereinsvorsitz antrat. Sie war die letzte Behördenleiterin in dieser Position, denn die beiden Ämter erschienen nach einer politischen Debatte über Interessenkollisionen nunmehr als unvereinbar.

Die Vereinsorganisation gab ab 2017 Anlass zu einer Modernisierung. Die auf Ehrenamtlichkeit ausgerichtete Arbeit des Vorstandes stieß beim Management eines sozialen Unternehmens mit rund 450 Beschäftigten an seine Grenzen. In einem ersten Schritt im Jahr 2019 wurde die Vereinsführung professionalisiert. 2023 wurde in einem zweiten Schritt der Wechsel der Rechtsform in die „Hamburger Kind – Betreuung und Bildung gGmbH“ für die Fortführung des pädagogischen Betriebs und die „Stiftung Hamburger Schulverein von 1875“ als alleinige Gesellschafterin der neuen Gesellschaft rechtskräftig vollzogen. Der Hamburger Schulverein wurde 148 Jahre nach seiner Gründung aus dem Vereinsregister gelöscht.

Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:

Zum Wohltätigen bzw. Hamburger Schulverein:

Imelmann, Herbert: Der Hamburger Schulverein von 1875 e.V. – 125 Jahre im Dienste der Hamburger Schuljugend, Hamburg, 2000
A.VII.3/169

Müller, Klaus-Dieter: Hand in Hand – Die Geschichte des Hamburger Schulvereins 1875 – 2023, Hamburg, 2025
A.XI.09/164

Müller, Klaus-Dieter: Hand in Hand – Die Geschichte des Hamburger Schulvereins 1875 – 2023, Dokumente und Daten, Hamburg, 2025
A.XI.09/164a

Uhlig, Kurt: Der Wohltätige Schulverein in Hamburg, Manuskript, Hamburg, 1947
A.VII.3/168 

Vollers, Georg: Die Speisungen des Wohltätigen Schulvereins, in: Gesundheitsbehörde Hamburg (Hrsg.): Hygiene und Soziale Hygiene in Hamburg, zur neunzigsten Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Hamburg im Jahre 1928, Hamburg, 1928, S.447 f.
A.VIII.1/074

Wohltätiger Schulverein: Tätigkeitsberichte des Wohltätigen Schulvereins über die Geschäftsjahre 1927/28 bis 1933/34
A.XI.09 /165

Wohltätiger Schulverein: Kinderheime des Wohltätigen Schulvereins, 1928
A.XI.09/166

Zu relevanten Themen in der Geschichte des Hamburger Schulvereins:

Armen-Kollegium der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.): Handbuch für Wohltätigkeit in Hamburg – bearbeitet von Joachim Hermann, Hamburg, 1901
A.VII.2/078 

Armen-Kollegium der Freien und Hansestadt Hamburg: Das öffentliche Armenwesen in Hamburg während der Jahre 1893 – 1902 – Darstellung seiner Reorganisation und weiteren Entwicklung, Hamburg, 1903
A.VII.2/005 

Blinckmann, Theodor: Die öffentliche Volksschule in Hamburg in ihrer geschichtlichen Entwicklung / Hrsg. von der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg, 1930
A.XI.03.a/015

Fiege, Hartwig: Geschichte der hamburgischen Volksschule, Bad Heilbrunn, 1970
A.XI.03.a/041

Hamburgisches Staatsamt: Hamburg im Dritten Reich – Arbeiten der hamburgischen Verwaltung in Einzeldarstellungen, Heft 1: Die Neugestaltung der Schule, Hamburg, 1935
A.III.4.h/007 

Hauptverwaltungsamt der Hansestadt Hamburg: Hamburg im Dritten Reich – Arbeiten der hamburgischen Verwaltung in Einzeldarstellungen, Heft 10: Die Sozialverwaltung, Hamburg, 1939
A.III.4.h/007 

Lippmann, Leo: Mein Leben und meine amtliche Tätigkeit: Erinnerungen und ein Beitrag zur Finanzgeschichte Hamburgs – aus dem Nachlass herausgegeben von Werner Jochmann, Hamburg, 1964, S. 198-252
A.I.2/184D 

Pielhoff, Stephen: Paternalismus und Stadtarmut – Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830-1914, Hamburg, 1999
A.I.2/008.56

Reye, Hans: Der Absturz aus dem Frieden: Hamburg 1914-1918, Hamburg, 1984
A.III.4.f/017 

Wildt, Michael: Der Traum vom Sattwerden – Hunger und Protest, Schwarzmarkt und Selbsthilfe in Hamburg 1945-1948, Hamburg, 1986
A.III.4.i/071

Zolling, Peter: Zwischen Integration und Segregation – Sozialpolitik im „Dritten Reich am Beispiel der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)“ in Hamburg, Frankfurt, 1986
A.III.4.h/295