Griff in die Geschichte (41) 

 

Glückwunsch, Mümmel! - 50 Jahre Wohnen in Mümmelmannsberg

 

von Gerhard Sadler

 

Die Neue Heimat hat in Hamburg viele Spuren hinterlassen. Ein Beispiel ist die Großsiedlung Mümmelmannsberg in Billstedt. Die 2,8 qkm große Fläche östlich der Autobahn A1 war im hamburgischen Aufbauplan 1960 noch als Außengebiet ausgewiesen. Mit Grundstücksaufkäufen und immer wieder neuen fachlichen Gutachten erreichte die Neue Heimat, dass Senat und Bürgerschaft diese Fläche in Bauland umwidmeten. Am 30.09.1970 wurde der Grundstein gelegt. Am 15.01.1972 waren die ersten 304 Wohnungen bezugsfertig. Weitere Bauträger waren die SAGA und einige Genossenschaften. Nach dem Ende der Neuen Heimat übernahm zunächst die GWG, dann die SAGA deren Anteile. Zielgruppen der Vermietung waren vor allem Familien mit unteren und mittleren Einkommen. Über 25% der Bevölkerung beziehen öffentliche Leistungen. Die Wohnungen sind im Durchschnitt größer, die Mieten dennoch deutlich niedriger als in anderen hamburgischen Großsiedlungen. In der Siedlung wohnen rund 19.000 Menschen in 7.500 Wohnungen. Am Rande entstanden Bungalows und Reihenhäuser. Ihren Namen erhielt die Siedlung nach der vorhandenen Straße Mümmelmannsberg. In der Siedlung wird auch oft kurz von „Mümmel“ gesprochen.

gig41 50JahreMuemmel 1Gebaut wurde in zwei Abschnitten, von 1970 bis 1972 und von 1974 bis 1983. Den ersten Abschnitt prägen bis zu neungeschossige Waschbetonbauten. Im Zentrum entstanden fünf höhere Punkthäuser. Nach wachsender Kritik am industriellen Bauen richteten sich die Planungsvorgaben für den zweiten Abschnitt insbesondere auf weniger Geschosse und mehr äußere Vielfalt. Sichtbares Mauerwerk trat wieder in den Vordergrund. Breite Durchgänge zwischen den Innenhöfen fördern Kontaktmöglichkeiten, schaffen Sicherheit und reduzieren den Fußgängerverkehr auf den öffentlichen Wegen.

Wie bei allen Großsiedlungen aus jener Zeit entwickelten sich soziale und kulturelle Probleme. Wenn die Nachbarschaft in einem Haus nicht harmonisch verläuft, wirkt sich das negativ auf alle Betroffenen aus. In den achtziger Jahren stiegen die Leerstände auf 15%, oft bedingt durch die sog. „Fehlbelegungsabgabe“, eine erhöhte Miete, wenn die Einkünfte die Obergrenzen für den Bezug einer Sozialwohnung überstiegen. gig41 50JahreMuemmel 2Auch die Fluktuation innerhalb der Siedlung nahm zu; viele Familien zogen vom ersten in den zweiten Bauabschnitt. Die Neue Heimat nahm diese Entwicklung zum Anlass für eine grundlegende Untersuchung von Ursachen und von Möglichkeiten der Abhilfe. Im weiteren Verlauf entwickelte die SAGA einen Masterplan mit einer ganzheitlichen Entwicklungsstrategie über 10 Jahre, der noch umgesetzt wird. Dazu gehört inzwischen auch die Planung neuer Wohnungsbauflächen am östlichen Siedlungsrand.

Der jährlich von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen für alle Stadtteile nach verschiedenen Kriterien veröffentlichte „Sozialmoratorium-Bericht“ weist 2021 für Mümmelmannsberg einen „sehr niedrigen Stand“ aus. 65 % der dort Wohnenden haben einen migrantischen Hintergrund, bei den unter 18jährigen sind es 80 %. Man möge sich durch einen höheren Stand von Kindern mit Migrationshintergrund oder von Alleinerziehenden, von Arbeitslosen oder von Mindestsicherung im Alter nicht täuschen lassen, was das Wohlbefinden der Wohnbevölkerung insgesamt angeht. Die Menschen hier halten zu Mümmelsmannsberg; die Fluktuationsrate ist in neuerer Zeit beachtlich gering. Soziale Hilfestellungen untereinander sind selbstverständlich. Man findet auch hier eine „Hamburger Tafel“, u. a. auch „Kiezläufer“, das sind jeweils 2–3 Jugendliche, die sich freiwillig um Kinder und Jugendliche mit schlechten Schulnoten kümmern, oder das Programm „Lass 1000 Steine rollen“ für eine aktive oder niedrigschwellige Suchtprävention durch alternative Angebote.

Es gibt eine leistungsstarke Ganztags-Stadtteilschule, zwei Grundschulen, mehrere KITAS, zwei Sportvereine. Angelehnt an die Stadtteilschule ist ein attraktiver außerschulischer Lernort entstanden, das Erlebnislabor MINTarium, das am 27.03.2019 vom Ersten Bürgermeister eröffnet wurde und für alle zugänglich ist. Das pädagogische Angebot zielt darauf ab, das Interesse an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik bei Hamburger Schülerinnen und Schülern zu fördern.

Die überbreite zentrale Kandinskyallee, die ursprünglich nach Schleswig-Holstein weiterführen sollte, trennte die Siedlung. Die Straße wurde auf zwei ampelfreie Fahrspuren mit Verkehrskreiseln an den Einmündungen reduziert. Die Straßenränder wurden mit Wildobstbäumen bepflanzt. Ein zentrales Einkaufszentrum konnte nach jahrelangem Leerstand neu gebaut und 2021 eröffnet werden. Parallel renovierte die SAGA die unansehnlich gewordenen Punkthäuser und gestaltete das Umfeld zu einem neuen „Urban Center“. Ein U-Bahn-Anschluss besteht bereits seit 1990.

Die seit Jahren laufenden Projekte zur Weiterentwicklung der Großsiedlung fordern auch ehrenamtliches Engagement in Stadtteilvertretungen, im Sanierungsrat und in anderen Gremien, auch in der Stadtteilzeitung „aktiv wohnen“, im Stadtteilarchiv bei der Elternschule. Es ist wie so häufig in den modernen Großsiedlungen. Diejenigen, die ihr Leben im Griff haben, die über viele Kontakte verfügen und sich in ihrer Wohnung und im Umfeld wohl fühlen, setzen sich auch für ihr Umfeld ein. Wer sich isoliert, sich nicht beteiligen kann oder möchte, hält sich eher zurück und trifft sich mit seinesgleichen. Der hohe Anteil von Migranten führt dazu, dass sich quer über die Siedlung Parallelgruppierungen bilden. Wolfdietrich Thürnagel, Mümmelmannsberger „von Anfang an“: „Wir haben inzwischen sechs verschiedene Gruppen, die alle ihren eigenen Stadtteil machen“.

gig41 50JahreMuemmel 3Auffällig sind in der teilweise etwas tristen Umgebung am Havighorster Redder die beiden Gebäude des evangelischen Kirchen- und Gemeindezentrums mit Kirchensaal, KITA, Altentagesstätte und verschiedenen Funktionsräumen. Von außen ist der Bau nicht als Kirche erkennbar. Die Verkleidung mit farbig emaillierten Platten durch den Bildhauer Hans Kock hebt das Gebäude deutlich von den zweckmäßigen Wohngebäuden der Umgebung ab.

Überhaupt spielt Kunst in der Siedlung eine besondere Rolle. Alle neu gebauten Straßen des ersten Bauabschnitts tragen Namen bekannter Künstlerinnen und Künstler. gig41 50JahreMuemmel 3Das Senatsprogramm „Kunst am Bau“ wurde hier neu interpretiert: Die Kunstobjekte wurden nicht mehr einzelnen Bauvorhaben zugeordnet, sondern an ausgewählten Stellen so gebündelt, dass sie der Bevölkerung insgesamt zugute kommen. So entstand 1981 im Zentrum der Siedlung der „Skulpturenhof“. Die Neue Heimat ließ 20 runde Granitsockel aufstellen und warb bei Hamburger Kunstschaffenden mit Erfolg dafür, dass sie hier eigene Arbeiten dauerhaft präsentieren. Drei Sockel sollten frei bleiben. Vielfalt und soziale Aktivitäten wie Mal- und Musikgruppen werden gefördert. Eine Zeit lang wurden Neugeborene – auf Wunsch der Eltern – von einem der Punkthäuser mit einer Willkommenshymne begrüßt. Dieses Projekt lief allerdings nach der Sanierung des Hauses aus.

Für den Kunsthistoriker Hermann Hipp wurde Mümmelmannsberg „zum Synonym für eine verfehlte, jedenfalls hypertrophe Wohnungsbau- und Städtebaupolitik der sechziger Jahre.“ Die Menschen in Mümmelmannsberg sehen das gelassen und werden sich auch in Zukunft mit der grünen Umgebung an der Glinder Au im Norden, den Feldern im Osten und den Boberger Dünen im Süden wohlfühlen...

 

 

 

Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:

 

Franklin Kopitzsch und Daniel Tilgner. Hamburg Lexikon. Ellert & Richter 3. Aufl. 2005. S. 331 Mümmelmannsberg.

A.II.1 / 0053

 

Hermann Hipp. Freie und Hansestadt Hamburg. Geschichte, Kultur und Stadtbaukunst an Elbe und Alster. Dumont. 3. Aufl. 1996. S. 274-275.

A.II.2 / 002

 

Manfred Zierke / Ulrike Arnold-Sanmann / Marianne Frenzel. Vorschläge für ein umfassendes Handlungskonzept zur Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und technischen Situation in Hamburg-Mümmelmannsberg. Oktober 1986.

A.II.4.a / 055

 

Neue Heimat. Werkbericht III Hamburg-Mümmelmannsberg.10 Jahre nach Grundsteinlegung.

A.II.4.a / 056

 

Neue Heimat. Hamburg-Mümmelmannsberg. In diesem Stadtteil werden Sie sich wohlfühlen.

A.II.4.a / 58

 

Hans Harms, Dirk Schubert. Wohnen in Hamburg – ein Stadtführer. Christians. 1989. S. 90-93.

A.II.6 / 050

 

 

 

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Erklärung des Vorstandes zur Rezension von Jakob Anderhandt, Februar 2023

 

Replik von Kim Sebastian Todzi zur Rezension von Jakob Anderhandt, Dezember 2022

 

Stellungnahme von Jürgen Zimmerer zur Rezension von Jakob Anderhandt, Dezember 2022

 

 

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